Quellen zur Varusschlacht
1. Velleius Paterculus (20 v.Chr. - 30 n.Chr.[?])
Der römische Geschichtsschreiber C. (?) Velleius Paterculus entstammte vermutlich dem Ritterstand in Campanien, evtl. aus Capua. Unter dem Feldherrn P. Vinicius war er Militärtribun in Thrakien und Makedonien. In den Jahren 1-4 n.Chr. begleitete er Caius Caesar, den Adoptivsohn des Princeps Augustus, in die Provinzen des Ostens. Nach dem frühen Tod des Caius (4 n.Chr.) nahm er - erst als praefectus equitum (Reiteroberst), dann als legatus legionis (Legionslegat) - von 4-12 n.Chr. an den germanisch-pannonischen Feldzügen des Tiberius teil. An Ämtern bekleidete er 7 n.Chr. die Quaestur und 15 n.Chr. die Praetur.
Die Historia Romana, die ein Kompendium der gesamten römische Geschichte bis zum Prinzipat des Tiberius enthält, verfaßte Velleius Paterculus 29/30 n.Chr.
II 117 1. Tantum quod ultimam imposuerat Pannonico ac Delmatico bello Caesar manum, cum intra quinque consummati tanti operis dies funesta ex Germaniae epistulae nuntium attulere caesi Vari trucidatarumque legionum trium todidemque alarum et sex cohortium, velut in hoc slatem tantummodo indulgente nobis fortuna, ne occupato duce [Textlücke?] et causa et persona moram exigiit. |
II 117 1. Kaum hatte Tiberius Caesar die letzte Hand angelegt, um den pannonischen und den dalmatischen Krieg endgültig zu beenden, da brachten - nur fünf Tage, nachdem er diese gewaltige Aufgabe vollendet hatte - Depeschen aus Germanien die Unglücksbotschaft, daß Varus getötet und drei Legionen niedergemetzelt seien, dazu ebenso viele Reitergeschwader und sechs Kohorten. Es war gerade, als ob uns das Schicksal dabei noch eine Gnade erwiesen hatte: daß nämlich unser Feldherr nicht mehr auf einem anderen Kriegsschauplatz beschäftigt war [Textlücke?]. Die Ursache der Katastrophe sowie die Person des Heerführers machen es erforderlich, daß ich hierbei kurz verweile. |
2. Varus Quintilius inlustri magis quam nobili ortus familia, vir ingenio mitis, moribus quietus et corpore et animo immobilior, otio magis castrorum quam bellicae adsuetus militiae, pecuniae vero quam non contemptor, Syria, cui praefuerat, declaravit, quam pauper divitem ingressus dives pauperem reliquit. | 2. Quintilius Varus stammte aus einer angesehenen, wenn auch nicht hochadligen Familie. Er war von milder Gemütsart, ruhigem Temperament, etwas unbeweglich an Körper und Geist, mehr an müßiges Lagerleben als an den Felddienst gewöhnt. Daß er wahrhaft kein Verächter des Geldes war, beweist seine Statthalterschaft in Syrien: Als armer Mann betrat er das reiche Syrien, und als reicher Mann verließ er das arme Syrien. |
3. is cum exercitui, qui erat in Germania, praeesset, concepit esse homines, qui nihil praeter vocem membraque haberent hominum, quique gladiis domari non poterant, posse iure mulceri. | 3. Als er Oberbefehlshaber des Heeres in Germanien wurde, bildete er sich ein, die Menschen dort hätten außer der Stimme und den Gliedern nichts Menschenähnliches an sich, und die man durch das Schwert nicht hatte zähmen können, die könne man durch das römische Recht lammfromm machen. |
4. Quo proposito mediam ingressus Germaniam velut inter viros pacis gaudentes dulcedine iurisdictionibus agendoque pro tribunali ordine trahebat aestiva. | 4. Mit diesem Vorsatz begab er sich ins Innere Germaniens, und als habe er es mit Männern zu tun, die die Annehmlichkeiten des Friedens genossen, brachte er die Zeit des Sommerfeldzuges damit zu, von seinem Richterstuhl aus Prozeßformalitäten abzuhandeln. |
II 118 1. At illi, quod nisi expertus vix credat, in summa feritate versutissimi natumque mendacio genus, simulantes fictas litium series et nunc provocantes alter alterum in iurgia, nunc agentes gratias, quod ea Romana iustitia finiret feritasque sua novitate incognitae disciplinae mitesceret et solita armis discerni iure terminarentur, in summam socordiam perduxere Quintilium, usque eo, ut se praetorem urbanum in foro ius dicere, non in mediis Germaniae finibus exercitui praeesse crederet. |
II 118 1. Die Leute dort sind aber - wer es nicht erfahren hat, wird es kaum glauben - bei all ihrer Wildheit äußerst verschlagen, ein Volk von geborenen Lügnern. Sie erfanden einen Rechtsstreit nach dem anderen; bald schleppte einer den anderen vor Gericht; bald bedankten sie sich dafür, daß das römische Recht ihren Händeln ein Ende mache, daß ihr ungeschlachtes Wesen durch diese neue und bisher unbekannte Einrichtung allmählich friedsam werde und, was sie nach ihrer Gewohnheit bisher durch Waffengewalt entschieden hätten, nun durch Recht und Gesetz beigelegt würde. Dadurch wiegten sie Quintilius Varus in höchster Sorglosigkeit, ja, er fühlte sich eher als Stadtprätor, der auf dem römischen Forum Recht spricht, denn als Oberbefehlshaber einer Armee im tiefsten Germanien. |
2. Tum iuvenis genere nobilis, manu fortis, sensu celer, ultra barbarum promptus ingenio, nomine Arminius, Sigimeri principis gentis eius filius, ardorem animi vultu oculis praeferens, adsiduus militiae nostrae prioris comes, iure etiam civitatis Romanae decus equestris consecutus gradis, segnitia ducis in occasionem sceleris opprimi, quam qui nihil timeret, et frequentissimum initium esse calamitatis securitatem. | 2. Es gab aber damals einen jungen Mann aus vornehmen Geschlecht, der tüchtig im Kampf und rasch in seinem Denken war, ein beweglicherer Geist, als es die Barbaren gewöhnlich sind. Er hieß Arminius und war der Sohn des Sigimer, eines Fürsten jenes Volkes. In seiner Miene und in seinen Augen spiegelte sich sein feuriger Geist. Im letzten Feldzug hatte er beständig auf unserer Seite gekämpft und hatte mit dem römischen Bürgerrecht auch den Rang eines römischen Ritters erlangt. Nun machte er sich die Indolenz unseres Feldherrn für ein Verbrechen zunutze. Es war kein dummer Gedanke von ihm, daß niemand leichter zu fassen ist als ein Nichtsahnender, und daß das Unheil meistens dann beginnt, wenn man sich ganz sicher fühlt. |
3. Primo igitur paucos, mox pluris in societatem consilii recepit: opprimi posse Romanos et dicit et persuadet, decretis facta iungit, tempus insidiarum constituit. | 3. Erst weihte er nur wenige, dann mehrere in seinen Plan ein. Die Römer könnten vernichtet werden, das war seine Behauptung, mit der er auch überzeugte. Er ließ den Beschlüssen Taten folgen und legte den Zeitpunkt für den Hinterhalt fest. |
4. Id Varo per virum eius gentis fidelum clarique nominis, Segesten, indicatur. Postulabat etiam [Textlücke] fata consiliis omnemque animi eius aciem praestrinxerant: quippe ita se res habet, ut plerumque cuius fortunam mutaturus deus, consilia corrumpat efficiatque, quod miserrimum est, ut, quod accidit, etiam merito accidisse videatur et casus in culpam transeat. Negat itaque se credere speciemque in se benevolentiae ex merito aestimare profitetur. Nec diutius post primum indicem secundo relictus locus. | 4. Dies wurde dem Varus von Segestes hinterbracht, einem loyalen Mann jenes Volkes mit angesehenem Namen. Er forderte Varus auf [,die Verschwörer in Ketten zu legen (Ergänzung in Anlehnung an Tac. ann. 1, 58)]. Aber das Schicksal war schon stärker als die Entschlußkraft des Varus und hatte die Klarheit seines Verstandes völlig verdunkelt. Denn so geht es ja: Wenn ein Gott das Glück eines Menschen vernichten will, dann trübt er meist seinen Verstand und bewirkt damit - was das Beklagenswerteste daran ist - , dass dieses Unglück auch noch scheinbar verdientermaßen eintrifft und sich Schicksal in Schuld verwandelt. Varus wollte es also nicht glauben und beharrte darauf, die offensichtlichen Freundschaftsbezeugungen der Germanen gegen ihn als Anerkennung seiner Verdienste zu betrachten. Nach diesem ersten Warner blieb für einen zweiten keine Gelegenheit mehr. |
II 119 1. Ordinem atrocissimae calamitatis, qua nulla post Crassi in Parthum damnum in externis gentibus gravior Romanis fuit, iustis voluminibus ut alii, ita nos conabimur exponere: nunc summa deflenda est. |
II 119 1. Den Ablauf dieser schrecklichen Katastrophe - die schwerste Niederlage der Römer gegen auswärtige Feinde seit derjenigen des Crassus gegen die Parther - werde ich, wie schon andere es getan haben, in meinem größeren Geschichtswerk ausführlich darzustellen versuchen, hier sei des Ereignisses nur allgemein mit Trauer gedacht. |
2. Exercitus omnium fortissimus, disciplina, manu experentiaque bellorum inter Romanos milites princeps, marcore ducis, refidia hostis,iniquitate fortunae circumventus, cum ne pugnandi quidem aut egrediendi occasio iis, in quantum voluerant, data esset immunis, castigatis etiam quibusdam gravi poena, quia Romanis et armis et animis usi fuissent, inclusus silvis, paludibus, insisiis ab eo hoste ad internecionem trucidatus est, quem ita semper more pecudum trucidaverat, ut vitam aut mortem eius nunc ira nunc venia temperraret. | 2. Die tapferste Armee von allen, führend unter den römischen Truppen, was Disziplin, Tapferkeit und Kriegserfahrung angeht, wurde durch die Indolenz des Führers, die betrügerische List des Feindes und die Ungunst des Schicksals in einer Falle gefangen. Weder zum Kämpfen noch zum Ausbrechen bot sich ihnen, so sehnlich sie es auch wünschten, ungehindert Gelegenheit, ja, einige mußten sogar schwer dafür büßen, daß sie als Römer ihre Waffen und ihren Kampfgeist eingesetzt hatten. Eingeschlossen in Wälder und Sümpfe, in einem feindlichen Hinterhalt, wurden sie Mann für Mann abgeschlachtet, und zwar von demselben Feind, den sie ihrerseits stets wie Vieh abgeschlachtet hatten - dessen Leben und Tod von ihrem Zorn oder ihrem Mitleid abhängig gewesen war. |
3. Duci plus ad moriendum quam ad pugnandum animi fuit: quippe paterni avitique successor exempli se ipse transfixit. | 3. Der Führer hatte mehr Mut zum Sterben als zum Kämpfen. Nach dem Beispiel seines Vaters und Großvaters durchbohrte Varus sich selbst mit dem Schwert. |
4. At e praefectis castrorum duobus quam clarum exemplum L. Eggius, tam turpe Ceionus prodidit, qui, cum longe maximam partem absumpsisset acies, auctor deditionis supplicio quam proelio mori maluit. At Vala Numonius, lagatus Vari, cetera quietus ac probus, diri auctor exempli, spoliatum equite peditem relinquens fuga cum alis Rhenum petere ingressus est. Quod factum eius fortuna ulta est; non enim desertis superfuit, sed desertor occidit. | 4. Von den beiden Lagerpräfekten aber gab der eine, L. Eggius, ein heldenhaftes, der andere, Ceionus, ein erbärmliches Beispiel. Der letzte bot, nachdem der größte Teil des Heeres schon umgebracht war, die Übergabe an: Er wollte lieber hingerichtet werden als im Kampf sterben. Numonius Vala aber, ein Legat des Varus, sonst ein ruhiger und bewährter Mann, gab ein abschreckendes Beispiel: Er beraubte die Fußsoldaten ihres Schutzes durch die Reiterei, machte sich mit den Schwadronen auf die Flucht und suchte den Rhein zu erreichen. Jedoch das Schicksal rächte seine Schandtat: Er überlebte seine Kameraden nicht, von denen er desertiert war, sondern fand als Deserteur den Tod. |
5. Vari corpus semiustum hostilis laceraverat feritas; caput eius abscisum latumque ad Marboduum et ab eo missum ad Caesarem gentilicii tamen tumuli sepultura honoratum est. | 5. Den halbverkohlten Leichnam des Varus rissen die Feinde in ihrer Rohheit in Stücke. Sie trennten sein Haupt ab und sandten es Marbod. Dieser wieder schickte es zu Caesar Augustus, der ihm trotz allem die Ehre eines Familienbegräbnisses gewährte. |